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Nach langer Zeit einen alten Freund in die Arme schließen. Herzklopfen und so. Aber auch ein bisschen Unsicherheit. Man überbrückt sie, indem man sich gegenseitig versichert, dass alles noch wie immer ist. Alles beim Alten, auf die guten Zeiten, play it again.
Wärme und Adrenalin verbreitet die Rückkehr von Kettcar im Frühjahr 2024 zwar auch, aber es fühlt sich doch ganz anders an. Sieben Jahre nach dem letzten Album „Ich vs. Wir“ scheint überhaupt nichts mehr beim Alten. Pandemie, Querdenker, Krieg, noch mehr Krieg, Scheiße.
„Bevor die letzte Hoffnung schwindet
Ein Bengalo in der Nacht
Bevor die Dunkelheit Dich findet“
(„Auch für mich 6. Stunde“)
Kein Schulterklopfen, kein weißt-du-noch. „Gute Laune ungerecht verteilt“, die sechste Platte der Hamburger Band, ist genau deshalb so aufwühlend, weil sie sich nicht mit gefälliger Wiedersehensfolklore aufhält. Kettcar halten Kontakt mit dem Hier und Jetzt, Kontakt mit uns. Als erstes erschien der Song „München“, musikalische Gewitterstimmung und eine empathische Erzählung über Alltagsrassismus, über dieses perfide „Nein, ich meinte, wo du eigentlich herkommst!“. Das Stück packt das so pointiert in Zeilen, dass die Punkplattenmusikredakteure sich nachts im Schlaf wälzen und fragen, wie hat er das gemacht? - wenn dieser ...But-Alive-Hyperlink gestattet sei. Grüße an alle Nerds.
Wie dem auch sei... Er, das ist in dem Fall Bassist Reimer Bustorff. Jener schreibt ebenfalls Stücke bei Kettcar, ist als Songwriter über die Jahre spürbar gewachsen. Und das hat natürlich einen Rückkanal: „Guck mal, wenn Reimer so ein großes Stück wie ‚München‘ anschleppt,“ grinst Sänger, Gitarrist und Hauptsongschreiber Marcus Wiebusch, „dann muss ich einfach nachziehen. Natürlich befeuert mich das. Wenn du zwei Songwriter in der Band hast, das macht noch mal was mit der ganzen Dynamik.“
„Und nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen“
(„Einkaufen in Zeiten des Krieges“)
„Gute Laune ungerecht verteilt“ beinhaltet tatsächlich die besten Texte der Band. Kein Scheiß, keine Infozettelgroßmaulerei, hört einfach nur „Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“. Was ist bitte mit Wiebusch los? So intense kann doch eigentlich niemand texten.
Oder „Kanye in Bayreuth“, dort wird sich dem aufgeladenen Kampfbegriff Cancel Culture angenommen. Wen will man noch hören, wen nicht mehr? Wo guckt man hin, wo weg? Ein solch komplexes Thema in Musik zu überführen und dabei aufregend statt anstrengend zu klingen… das bringt dir doch niemand an der Popakademie bei. Hier aber funktioniert es.
Überhaupt gelingt es der Platte immer wieder, aus Zwischentönen, aus Nuancen Hits zu machen. Hits, die dich tiefer treffen als irgendwelche Slogans.
Schön ist aber auch, wie die Brisanz der Platte einen nie überrollt. Liegt vermutlich daran, dass immer auch überraschend gesetzt der Kettcar-Humor durchbricht. Denn kein Drama entbindet von der gerechtfertigten Frage, wie Darth Vader sich die Zähne putzt. Oder auch der Titel des hinreißenden Stücks, das von der Machtübernahme der Paketboten und Pflegerinnen erzählt. Heißt „Doug & Florence“ - und verbindet in einer sehnsuchtsvollen Klassen-Utopie Florence Nightingale mit Doug Heffernan von „King Of Queens“.
„Turnschuhe, so weiß wie Aspirin“
(„Blaue Lagune, 21:45 Uhr“)
Vor allem aber macht „Gute Laune ungerecht verteilt“ Musik. Und die wirkt vielschichtiger als zuletzt. Man spürt, wie Band nicht nur mehr zulassen wollte, sondern es auch getan hat. Der Opener „Auch für mich 6. Stunde“ mit dieser Billy Joel in Moll Anmutung ist eine Verheißung, die die restlichen Stücke voll ausschöpfen. Trompetensätze, ein Babababababa-Chorus, intime Akustik-Momente und Assoziationen zu Acts wie The National, Idles, Sufjan Stevens, War On Drugs bis hin zu, ja, den Beatles.
Kettcar, das ist einfach eine Band, keine Geräuschkulisse für gute Texte. Kettcar lebt von den geilen Skills des Gitarristen Erik Langer, genauso wie von Christian Hake (Schlagzeug) und Lars Wiebusch (Keyboard).
Das Ergebnis ist eine Platte, deren große Musikalität der Textgewalt tatsächlich ebenbürtig ist.
Kettcar suchen 2024 eine künstlerische Antwort auf überfordernde Zeiten - und das, ohne sich in einfachen Wahrheiten zu verstricken.
Ihnen dabei zuhören zu dürfen, ist mehr als bloß Honig auf die Wunden.
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